5.449: Der USB-Speicherstick oder Eva, der Teufel und das verbotene Paradies

Obwohl ich in diesem Moment vollen Magens und bar jeglicher unerfüllter, sexueller Wünsche fühle und denke, so mag mir gerade kein besseres Bild gelingen als dieses eine, das ich jetzt zu zeichnen beginne[1]:

Man stelle sich mal vor, man hat nicht bloß eine Datei, auch nicht ein Aktenkoffer, auf seinem USB-Speicher-Stick. Immer wenn man ihn an einen Computer steckt, wird der Inhalt des Datenträgers mit einem Ordner synchronisiert, allerdings gehen wir von einer einseitigen Synchronisation aus. Ein Ordner vom Computer wird auf den USB-Stick kopiert. Es ist hier nicht ein Ordner, sondern mehrere Datenquellen, verstreut irgendwo auf dem Computer. Dies könnte man dann wieder mit dem abstrakten Begriff eines Ordners realisieren, so wie es ein User wahrnehmen würde. Mit einem virtuellen Ordner, wobei Ordner sowieso bloß virtuell sind und physisch nur schwer zu finden sind[2]. Immer wenn der USB-Stick am Computer ist, wird »er« synchronisiert, vom Computer auf den Stick. Es findet immer wieder ein Abgleich statt. Jedes Mal. Wenn der USB-Stick nicht am Computer ist, so dürfte sich idealerweise nichts verändern. Tut es ja auch nicht.

Aber angenommen, auf dem USB-Stick wäre nicht bloß ein Speicher, der ohne den Anschluss am Computer völlig passiv ist, sondern mit einer eigenen Stromquelle ausgestattet und einem guten Prozessor. Das ist bei einem USB-Speicher-Stick so zwar nicht Realität, aber total abwegig ist das nicht. Dazu nehmen wir aber noch etwas wirklich Abwegiges: einen freien Willen. Ich will hier keine Komponente mit rein nehmen, die böse und unberechenbar ist, aber eine die gerade so ursachenfrei wirkt, dass wir das Eigenleben unseres USB-Sticks nicht erklären können. Wenn der USB-Stick nicht am Computer angeschlossen ist, hat er dennoch die Fähigkeit aktiv zu sein. Er kann die Daten, die auf ihm gespeichert sind, lesen und verarbeiten und selbst Daten speichern, eine echte EVA[3]. Und diese Fähigkeit nutzt dieser EVA-Stick (der Faulheit zuliebe jetzt nur noch »Eva«) auch und »Eva« führt ein wildes hemmungsloses Leben ohne den Computer. Sie genießt ihre Welt und fantasiert. Die »Eva« feiert und reißt Speicherblöcke nieder und schreibt die ganze Welt ihres digitalen Daseins neu. Dieses verantwortungsunbewusste Leben und das durch die Landschaft der Bits und Bytes streifend findet erst wieder mit dem engen von Penetration geprägten leidenschaftlichen Kontakt von »Eva« und einem Computer ein jähes Ende. »Evas« Datensatz wird »synchronisiert« und die Welt der wilden »Eva« ist wieder grau wie ein 1990er-PC. Darauf will ich nun zwei Bilder aufbauen:

Das vergleichsweise Banale zuerst: Wenn man Streit mit jemandem hat, eine Person nicht mehr sehen kann, nicht mehr mag, Angst vor ihr hat oder irgendeine Vorstellung (d.h. irgendein Mem bzw. eine Repräsentation dieser Person) im Kopf hat, die davon abhält sich mit ihr leibhaftig zu beschäftigen, dann folgt daraus nun mal die Situation, dass man mit dieser Person, nennen wir sie einen »Teufel«[4], keinen Kontakt mehr hat. Bestehen bleibt zu dieser Person eben noch die Vorstellung. Menschen zeichnen sich für uns eben nicht nur durch die (hoffentlich) von ihnen verursachten Sinneswahrnehmungen aus, sondern eben auch durch unsere Repräsentation dieser. Diese Repräsentation, ich will es von nun an Person-Memplex nennen, bleibt, und sie bleibt womöglich präsent. Immer, wenn Menschen, die mit dem »Teufel« in Kontakt stehen, präsent werden, besteht die Gefahr, dass der »Teufel«-Person-Memplex präsent wird. Damit ist der »Teufel« potenziell präsent, obgleich man weder den leibhaftigen »Teufel« vor sich hat, noch reale Eichhörnchen. Die Idee des »Teufels«, sein Mem ist präsent. Wir Menschen nehmen selektiv wahr. Die Datenmenge all unserer Sinne würde unser Bewusstsein stark überfordern. Wir sehen viel, doch nehmen wenig wahr. Es fahren so z.B. nur noch Audis durch die Gegend, wenn man einen Audi kaufen will und Murphys Gesetz gilt immer, wenn es gilt. Ebenso mögen wir Widersprüche nicht. Wir basteln uns unser Weltbild so zusammen, dass es harmoniert. Was nicht passt, wird entweder angepasst[5] oder gnadenlos abgelehnt. Unser ganzes Weltbild infrage zu stellen ist auch schwierig, wenn es zuvor immer so schön konsistent war. Es kann natürlich auch kaum anders, wenn man so harmoniebedürftig im Geiste ist, wie es die Tiere mit »Geist« sind. Aber das ist ein anderes Thema. Man nimmt gerne auf, was den »Teufel« noch mehr verteufelt, auch wenn man es nicht machen sollte. Man nimmt ungern auf, was positiv ist, wo der »Teufel« doch der Teufel in Person ist. Ich will hier nicht den Teufel an die Wand malen, aber das ist keine gute Entwicklung, wenn der »Teufel«-Person-Memplex weiter mit dem »Bösem« gefüttert wird und das »Gute« wie »nicht mehr haltbares« Essen beiseitegeschoben wird. Wenn man irgendwann man wieder dem »Teufel« gegenübersteht und dann trotz aller Vorurteile oder getrübten Urteile nicht nur Hemmungen überwindet, sondern dann auch noch tatsächlich zu dem Urteil gelangen könnte, dass der »Teufel« eigentlich ein Eichhörnchen ist, also nicht das Böse der Welt verkörpert und zum Fürchten ist, dann hat sich der »Teufel«-Person-Memplex wieder an die Realität angepasst. Um nun »Eva« und »Teufel« zusammenzuführen: Die Realität und der »Teufel«-Person-Memplex wurden synchronisiert, wie unser EVA-Stick und der Computer. Wie ein abgehobener »Star« aus der Eintagsfliegen-Casting-Landschaft nach einigen Wochen geerdet wird, so wurde auch »Eva« wieder geerdet und der »Teufel« wurde – ich will die Kirche mal im Dorf lassen – zumindest wieder als weniger schlimm wahrgenommen. Es muss ja auch nicht aus jedem Teufel ein Engel werden, doch die Realität tut gut und das Vermeiden von Kontakt zu Ängsten und Befürchtungen kann einen wahren Teufelskreis begründen.

Bild Nr. 2: Ich lebe in einer Welt voller Freiheit. Ich kann mir meine Gedanken über Gott und die Welt machen. Ich kann über Religionen herziehen, kann sagen, dass die katholische Kirche die größte Verbrecherorganisation der Menschheitsgeschichte ist, dass Israels Mauerbau und Siedlungspolitik menschenverachtend sind (und die Gegenseite ignorieren), dass ich vor US-Präsidenten genauso wenig Hochachtung empfinde wie vor protzenden Managern oder Politikern und ich kann alles anzweifeln, was ich höre und sehe. Meine Gedanken sind frei. Ich kann mich herumtreiben in einigen zwar vom Verfassungsschutz beobachteten Kreisen, die Meme zirkulieren lassen, die der Staat nicht will, aber dennoch kann ich kritisch denken und mich austauschen. Regierungskritische Reden und Meinungsäußerungen zu verdeckter Kriegsführung oder offene Anzweiflungen von Regierungsaussagen, oder dem Mainstream krass entgegenstehender Ideale zu Wirtschaft und Staat kann ich nicht bloß konsumieren, sondern mich auch beteiligen. Ich lebe ein wahrlich wildes Leben in diesem verbotenen Paradies. Ich nehme neue Meme auf, bearbeite sie, gebe sie weiter und bin frei[6].

Hin und wieder denke ich an andere Zeiten zurück und auf andere Menschen. Es gibt einen Strom an Informationen aus verschiedenen Quellen, die letztendlich irgendwie zusammengehörig erscheinen, nicht wirklich, aber irgendwie »virtuell«[7]. Immer, wenn man den Fernseher einschaltet oder die üblichen Nachrichtenquellen konsumiert (hier wirklich bloß konsumiert), strömen Meme ein, die eine scheinbar kontroverse Sichtweise der Welt über die Welt darstellen, wo doch die Kontroversität bloß so groß erscheint, weil die Relation die Größe der Erscheinung bestimmt. Würde im Strom der Meme eine Reihe von Memen völlig aus der Reihe tanzen, wären die üblichen Kontroversen gar nicht mehr so groß in der Wahrnehmung. Doch der Einheitsbrei, in dem die Meme daherkommen, beinhaltet kaum nennenswerte Abweichungen im Weltbild und schon gar nicht beim Thema »Bedeutung von Wirtschaft/Wachstum/ …« oder »Herrschaftsformen« oder möglicherweise »Formen des Zusammenlebens«. Nein, angeschlossen an den großen Informationsstrom findet man sich angeschlossen mit vielen gleich angeschlossenen Menschen an ein relativ unkritisch gehaltenes System. Wäre ich »Herrscher« so würde ich all diese »EVAs« angeschlossen an meinen Fluss von Informationen halten. Ich würde sie nicht ihr Eigenleben leben lassen. Sie sollen nicht in Freiheit herumdenken und auf dumme Ideen kommen. Ich will deren Meme kontrollieren. Ich gebe ihnen dafür auch Kontroversen, Spannung, Action und Unterhaltung. Ich entertaine sie! Ich gebe ihnen Themen und das Gefühl, darüber völlig frei zu reden und zu denken. Ja, warum eigentlich nicht?! Sie dürfen gerne frei sein, beim Reden über kleine Lebensmittelskandale oder Naturkatastrophen. Man kann ihnen auch als Bauernopfer Unternehmen zum Fraß vorwerfen, die die Rolle des »Bösen« übernehmen. Oder man baut meine Feinde zu deren Feinde auf. Solange sie am Strom der von mir kontrollierten Informationen hängen, gehören sie mir. Ihre Köpfe brauche ich. Ihre Gedanken dürfen nicht einfach sorglos in der Landschaft der freien Meme streifen. Sie dürfen keine Partys machen, bei denen sie sich austauschen, ohne dass ich sie steuere. Sie gehören mir, ganz alleine mir! Hauen meine Schäfchen ab, muss ich sie wieder anschließen und füttern mit meinem Gedankengut. All ihre wilden Ideen und Fantasien wieder überschreiben. Sie gehören mir!



[1] Und über bessere Möglichkeiten darzustellen, worin hier meine Intention liegt, wäre ich dankbar.

[2] Wirklich nicht

[3] EVA= Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe. Input und Output und die Verarbeitung sind gegeben.

[4] Leider kann ich den Teufel nicht beim Namen nennen. Es mangelt mir nicht am Willen, sondern an der Fähigkeit oder am Glauben.

[5] Hierzu gibt es viele tolle Beispiele, die unsere täglichen kognitiven Dissonanzen entblößen.

[6] Vielleicht fühle ich mich auch nur frei und bin es in Wirklichkeit nicht?! Menschen, die sich frei fühlen, aber gelenkt sind, bereiten dem Herrscher die allergeringste Sorge.

[7] Zumindest über das Thema „Nachrichtenagenturen“ könnte man auf die Idee kommen, dass es  gar nicht sooo „virtuell“ sind.


Zur Datierung des Textes bzw. Umrechnung der NZ in die Altzeit: www.mcrass.de/rechner